Artikel erschien im Beobachter 26/2000 Die Revolution auf der Piste Zahlreiche Wintertrendsportarten prägen die Pisten der Schweizer Wintersportorte. Das sollten Sie bezüglich Ausrüstung, Ausbildung und Unfallgefahren wissen.
Von Fabrice Müller "Vor allem im tiefen, frischen Pulverschnee beschert es dem Fahrer ein Gefühl, das absoluter Harmonie so nahe kommt, wie kaum ein anderer Sport. Jeder, der es selbst einmal probiert hat, weiss, warum so viele Jugendliche und Junggebliebene vom Skifahren zum Snowboarding konvertieren", beschreibt Claus Schweitzer, Autor des Buches "Swiss Adventure Specials", die Faszination des Snowboards. Als das Snowboard vor einigen Jahren in den Schweizer Wintersportorten erstmals auftauchte, sorgte es für eine kleine Revolution auf den Skipisten. Heute hat sich das Snowboard etabliert, und auch immer mehr Senioren wagen sich aufs trendige Schneebrett. Rund 500'000 Snowboarder stehen zirka 2 Millionen Skifahrern gegenüber. Unter dem Oberbegriff der sogenannten Fun- und Trendsportarten finden sich mittlerweile noch weitere neue Wintersportgeräte (siehe auch Kasten) wie Big Foot bzw. Kurzskis, Carving- und Freestyle-Skis (vgl. Skiakrobatik), sowie der wieder entdeckte Telemarkstil. Die Schweiz ist im Winter das Paradies für Trendsportarten. In keinem Land der Welt gibt es auf so engem Raum so viele Funparks und Halfpipes. Die grössten Fun Parks stehen in den Skiarenen von Flims-Laax, Falera, Arosa, Davos, Scuol, Saas-Fee, Verbier und Adelboden. Meiringen-Hasliberg und Adelboden-Lenk zählen zu den Telemark-Hochburgen der Schweiz. Neues Leben dank Carving Die Popularität der Wintertrendsportarten spiegelt sich auch in den Verkaufszahlen der Schweizer Sportfachgeschäfte wieder. Wie eine Umfrage des Marktforschungsinstituts IHA zeigt, wurden im letzten Winter 355'000 Paar Skis, 110'000 Snowboards und 33'000 Paar Langlaufskis verkauft. Laut Claude Benoit, Direktor des Verbandes Schweizer Sportfachhandel (Asmas), gingen dabei rund zehn Prozent mehr Snowboards über den Ladentisch als in den Jahren zuvor. Bei den Skis haben die taillierten und kürzeren Carving-Modelle die früheren Slalomskis praktisch verdrängt. "Carving hat dem Skisport neues Leben eingehaucht", so Benoit. Die Telemark-Skis verzeichneten in den letzten Jahren ebenfalls eine kontinuierliche, positive Entwicklung, die weiterhin anhält. "Mit dem Einzug der Carving-Skis und der Sicherheitsbindung hat sich Telemark in Bezug auf die Ausrüstung stark weiterentwickelt." Schneesportler, die es vorziehen, ihre Ausrüstung zu mieten, finden im Sportfachhandel ein grosses Angebot an verschiedensten Wintersportgeräten. Ob Carvingski, Snowboard, Big Foot oder Freestyle-Ski - die Kunden haben die Möglichkeit, unter den neusten Modellen auswählen. Wer will, kann gleich die ganze Angebotspalette durchtesten und ein entsprechendes Abonnement kaufen. Polysportiv präsentieren sich inzwischen auch viele Skischulen; sie bieten Ski-, Carving-, Snowboard-, Big-Foot- und Telemark-Unterricht an, wie Riet Campell, Direktor des Schweizer Ski- und Snowboardverbandes, informiert. "Allumfassendes Glücksgefühl" Weshalb erfreuen sich die Wintertrendsportarten einer derart wachsenden Beliebtheit? Martin Venetz, Sportpsychologe an der Universität Zürich, erklärt die Faszination der Trend- und Freestyle-Sportarten durch den sogenannten Kick, den die Fahrer beim Betreiben ihres Sportes erleben. "Sie verlieren das Zeitgefühl; Angst, Anstrengung oder Schmerz nehmen sie kaum mehr wahr. Sie vergessen die Alltagssorgen und leben allein für und durch den Moment. Die Belohnung ist ein allumfassendes Glücksgefühl." Für Erwin Flury von der Zürcher Veranstaltungsagentur "Free Animation Factory" (FAF) hat Freestyle nichts mit dem Sportgerät zu tun, sondern mit der geistigen Grundhaltung: Die Leistung sei immer nur ein Nebenprodukt und entstehe aus dem Spass an der Sache. - Freestyle als Philosophie, als Lebenseinstellung. "Im Freeskiing mache ich einfach das, wozu ich gerade Lust habe und kann dabei eigene Tricks entwickeln. Am wichtigsten ist der Spass an der Sache", erklärt Martin Walti (18) aus Mettmenstetten, Skiakrobat und zweifacher Junioren-Schweizermeister sowie Vizeweltmeister. 76'000 Unfälle pro Jahr Der Spass im Schnee hat jedoch leider auch seine Schattenseiten: Wie eine Hochrechnung der Beratungsstelle für Unfallverhütung bfu zeigt, erleiden jährlich rund 51000 Personen beim alpinen Skifahren und 25000 Personen beim Snowboarden einen Unfall; in den Skiunfällen inbegriffen sind Vorfälle mit Carvern, Freestyle-, Big Foot- und Telemarkfahrern. Die Zahl der Wintersportunfälle entspricht laut René Mathys, Leiter Abteilung Sport bei der bfu, einem Viertel aller Unfälle im Sport. Während der Wintersaison 98/99 erfassten die Pisten- und Rettungsdienste der Skiregion Davos kartografisch sämtliche Unfallorte, aufgeteilt nach Selbst- und Kollisionsunfällen. Zudem wurden über 900 Schneesportler zu möglichen Kollisionsursachen befragt. Ergebnis: Das individuelle Unfallrisiko von Snowboardern ist doppelt so gross wie dasjenige der Skifahrer. Der Anteil Kollisionen am Unfallgeschehen beträgt vier (Pischa) respektive 13 Prozent (Jakobshorn), wobei mehr Skifahrer als Snowboarder davon betroffen sind. Bei 43 Prozent aller Kollisionen sind zwei Skifahrer beteiligt, bei 36 Prozent prallen ein Skifahrer und ein Snowboarder zusammen, und bei 21 Prozent der Fälle kollidieren zwei Snowboarder miteinander. Beobachtungs- und Wahrnehmungsfehler Als Kollisionsursache nennen die im Spital Davos behandelten Verletzten ungenügender Abstand (21 Prozent), zu hohe Geschwindigkeit (19 Prozent), Nichtbeherrschen des Geräts (17 Prozent) und Nichtbefolgen von Pistenregeln (11 Prozent). "80 Prozent aller Schneesportunfälle entstehen durch Beobachtungs- und Wahrnehmungsfehler, Unaufmerksamkeit und Selbstüberschätzung", ergänzt Mathys und kritisiert, dass viele Seilbahnen ihre Transportkapazitäten zwar ständig ausbauen, die Pisten jedoch diesen Zuwachs oft gar nicht aufnehmen können. Hinzu kommt, dass das heutige Material der verschiedenen Wintersportarten das Fahren immer höherer Geschwindigkeiten erlaubt. Die Verhaltensregel Nr. 2 des Internationalen Skiverbandes FIS - welche vorschreibt, Geschwindigkeit und Fahrweise dem Können und den Verhältnissen anzupassen - werde am häufigsten missachtet. "Es ist bekannt, das die jungen Snowboard- und Freestyle-Fahrer oft sehr risikofreudig sind, gerne schnell fahren und sich häufig auch über die Pistenabsperrungen hinaus wagen. Dadurch wird jedoch die Absturz- und Lawinengefahr beträchtlich erhöht." Handgelenkbrüche bei Snowboardern Das Risiko, als Snowboardfahrer zu verunfallen, ist laut bfu-Hochrechnung zwar doppelt so hoch wie beim Skifahren, dafür verletzen sich Snowboarder meistens weniger schwer als "Zwei-Brett-Fahrer". Für Mathys liegt der Hauptgrund darin, dass Snowboardfahrer in der Regel jünger sind als Skifahrer und daher über eine bessere körperliche Konstitution verfügen. Das Knie wird beim Skifahren besonders stark belastet und bei 30 bis 40 Prozent aller Verletzungen in Mitleidenschaft gezogen. Häufig komme es zum Riss des vorderen Kreuzbandes. Die Hauptverletzungen bei Snowboardern liegen zu 50 Prozent im Schulter- und Armbereich. Typisch sind Handgelenkbrüche, meist als Folgen eines Rückwärtssturzes bei Anfängern. "Durch das Vermeiden von Stürzen entstehen bei Snowboardern die häufigsten Verletzungen, da man sich in solchen Situationen zusätzlich verkrampft", berichtet Mathys. Beim Freestyle-Fahren bestehe auf extremen Buckelpisten erhöhte Verletzungsgefahr, vor allem am vorderen Kreuzband bedingt durch die enorme Kniebelastung. Big Foots stellen ein höheres Unfallrisiko dar, weil sie über keine Sicherheitsbindung verfügen. "Im Falle eines Sturzes bleibt man nicht selten mit der Skispitze oder dem Skiende im Schnee hängen." Mathys warnt zudem davor, Big Foots an Kindern abzugeben. Wegen ihres schwächeren Knochenbaus und der fehlenden Sicherheitsbindung sind diese doppelt gefährdet. Ein eher geringeres Verletzungsrisiko vermutet Mathys beim Telemark, da diese Sportart vor allem von routinierten Skifahrern ausgeübt wird. Pistenregeln befolgen Unfälle und Verletzungen im Schneesport müssen nicht sein, wenn gewisse Regeln beachtet werden. "Die richtige Selbsteinschätzung geht über alles. Wintersportler müssen wissen, was sie sich bezüglich Kondition, Fahrkönnen, Material und Fremdeinflüsse zumuten können", informiert Domenic Dannenberger, J+S-Fachlehrer für Snowboards beim Sportinstitut des Bundesamtes für Sport in Magglingen. Beim Kauf eines Sportgerätes ist es unerlässlich, sich von einem Fachgeschäft beraten zu lassen. "Nutzen Sie vor dem Kauf eines neuen Wintersportgerätes die Testmöglichkeit im Gelände", rät die Beratungsstelle für Unfallverhütung in ihrer Broschüre "Schneesport". Snowboarder sollten besonders gefährdete Körperteile wie Handgelenk oder Arme mit Protektoren schützen. Laut Dannenberger darf der Kopfschutz für alle Wintersportarten kein Tabu mehr sein. In den USA wird intensiv über die Einführung eines Helmobligatoriums für Skifahrer und Snowboarder diskutiert. Die Industrie hat dieses Marktpotential bereits erkannt. Weiter sollten Wintersportgeräte vor jeder Saison durch Fachpersonen überprüft werden. Besonders die Kanten tragen wesentlich zur aktiven Sicherheit bei. Mit dem Bindungs-Prüfgerät wird die Gefahrensituation simuliert und die Funktionsfähigkeit der Skibindung getestet. Allgemein wird empfohlen, in einer Skischule eine Grundausbildung auf dem jeweiligen Wintersportgerät zu absolvieren und nicht "auf eigene Faust" auf die Piste zu gehen. Wer die zehn verbindlichen Schneesport-FIS-Regeln sowie die Pistensignalisationen befolgt, schützt sich ebenfalls vor möglichen Unfallrisiken. Die Schweizerische Kommission für Unfallverhütung auf Skiabfahrten SKUS (www.skus.ch) hat in Ergänzung zu den FIS-Regeln sechs spezielle Snowboard-Regeln aufgestellt. Im Dezember letzten Jahres lancierte die Suva die Kampagne "Check the risk"; 15 Wintersportorten führen ein Pisten-Leitsystem ein, das speziell geeignete Pisten für Anfänger, Carver, Freerider und Freestyler kennzeichnet. Zwischen drei bis vier Millionen Schneesportler werden dadurch erreicht. Wie bei anderen Disziplinen gehört schlussendlich auch beim Wintersport das Aufwärmen der Muskulatur zu optimalen Vorbereitung. So wird der Traum vom Schneeabenteuer auf der Alp nicht zum Alptraum. Informationen:
1 Comment
|
AutorFabrice Müller Archiv
April 2019
Kategorien
Alle
|